Archiv für den 13. August 2007Immer noch in Begleitung von Hans-Joachim, meinem derzeitigen Gastgeber und gutem Kenner seiner Region, erkunde ich Kostrzyn und sein historisches Stadtzentrum, das heute auf der polnischen Seite liegt. Vorbei an der Grenze und am gewohnten Markt für die Deutschen, von dem Hans-Joachim mir sagt, er sei zu teuer und er ziehe einen anderen, kleineren Markt ein Stück weiter im Stadtinneren vor. Er zeigt mir das Hotel ganz nah am Grenzübergang, an dessen Bau er beteiligt war: “Die Polen haben einfach die Steine der Schloßruine wiederverwendet. Hier hat man schnell mit dem Wiederaufbau angefangen.” Wir gelangen tiefer in die Straßen der Stadt, die im Zweiten Weltkrieg zu 80% zerstört wurde. Bescheidene Wohnbauten mit mehreren Stockwerken, Balkons geschmückt mit Satellitenschüsseln. Alte Gebäude gibt es nur sehr wenige. Auf den Gehwegen flanieren Jugendliche und Kinderwagen in der Sonne. Es gibt viele Kinder, die auf der Straße spielen. Nachdem ich mich in der letzten Zeit daran gewöhnt habe, davon zu hören, dass die Jungen die Region verlassen, um Arbeit zu finden, erstaunt mich dieses Getümmel, all diese Kinder. Aber Hans-Joachim hat auch hierfür eine Antwort: “Abtreibung ist in Polen verboten. Die Menschen hier sind sehr katholisch und praktizieren ihren Glauben auch.” Das bestätigt sich, als wir die Tür zu einer Kirche öffnen, in der mehrere Frauen auf Knien beten. Prostitution dagegen wird toleriert. Die Bordelle, die 24 Stunden am Tag geöffnet sind, erinnern einen daran. Als wir vor dem beeindruckenden Bahnhof entlang laufen, erklärt mir Hans-Joachim, dass auch hier die Eisenbahn eine wichtige Rolle gespielt habe. “Aber heute ist es nicht mehr wie früher. Die Polen haben noch weniger Geld als wir und mit der Arbeit ist es dasselbe: 20% sind arbeitslos.” Hans-Joachim weiß, wovon er spricht, denn er hat zehn Jahre in Polen gelebt. Und ob sich daran etwas ändert, wenn Polen zum Schengener Raum gehört und die Grenzen sich öffnen… warum auch, nichts ist sicher, aber man muss es abwarten. Gemeinsam mit Ilona und Hans-Joachim entdecke ich die wechselhafte Geschichte der Stadt, denn das “Kulturhaus” von Küstrin-Kietz hat extra seine Türen geöffnet, um uns diesen Besuch auch außerhalb der regulären Öffnungszeiten - dienstags 13-17 Uhr und donnerstags 8-14 Uhr - zu ermöglichen. Die von Pflanzen überwucherten Ruinen, die Hans-Joachim und ich schon vom Rad aus auf polnischer Seite bemerkt haben, lassen sich erklären: Der Markgraf Johann von Brandenburg hatte dort im 16. Jahrhundert seine Residenz errichtet, und sein Schloß mit Festungsmauern von 8 m Höhe und Bunkern schützen lassen. Zunächst Garnisonsstadt der Hohenzollern (1630), dann des Staates (1860), hat das, was man hier die “Wiege des preußischen Militarismus” nennt, dem Zweiten Weltkrieg an der deutsch-russischen Front nicht standgehalten. Zu einem Großteil zerstört, wird die alte Siedlung mit Hilfe europäischer Fördergelder wieder aufgebaut. Während die Polen versuchen, einen touristischen Anlaufpunkt um das frühere historische und heute verschwundene Zentrum zu schaffen, scheinen die Deutschen angesichts der Anstrengungen, die nötig sind, um die alten Kasernen entlang der Oder zu sanieren, aufzugeben. Deutsche Infanterie-Kasernen, die dann von den Russen übernommen wurden. Hans-Joachim erinnert sich an diese Zeit, als die Russen wie die Könige in den Kasernen lebten, während im Dorf die Regale im Konsum mehr als leer waren. Nichtsdestotrotz war das Verhältnis zu den Einwohnern gut. Am Ende ist es ein Hartz IV-Emfänger, den ich in den leeren Straßen von Küstrin-Kietz getroffen habe, der mich bei sich aufnimmt, nachdem die Pensionen des Nestes besetzt waren und nachdem er mich gewarnt hatte, dass im Dorf getratscht werden würde. Was soll´s, da bin ich in einer neuen Welt, der von Hans-Joachim, der mich schnell seinen Freunden, den Nachbarn Uwe und Ilona, vorstellt. An Gastfreundschaft fehlt es hier nicht, eher an Perspektiven. Uwe und Ilona sind seit mehr als zehn Jahren arbeitslos. Sie arbeiteten für die Deutsche Reichsbahn, wie viele andere in der Gegend. Aber mit der Wiedervereinigung sank der Bedarf an Rohstoffen aus Rußland, der Schienenverkehr nahm ab und die Reichsbahn, von der Deutschen Bahn übernommen, wurde umstrukturiert. Seitdem herrscht Hartz IV. Die Miete wird übernommen und man erhält ca. 350 Euro. Nicht leicht. Hans-Joachim bekommt auch Hartz IV. Von Beruf Maurer, glaubt er nicht mehr daran, noch einmal arbeiten zu können. In Deutschland findet er keine Stelle mehr und in Polen verdient er selbst mit Wochenendarbeit nicht genug, um damit einen Monat lang über die Runden zu kommen. Die Zeit der Baustellen ist für ihn also vorbei. Bleiben nur die Kollegen, Deutsche wie Polen, um sich an die gute alte Zeit zu erinnern! Denn für Hans-Joachim ist die Grenze nur eine Formalität. Dieses Kind des Landes, das heute in den Fünfzigern steht, arbeitete, liebte und wohnte auf der einen wie auf der anderen Seite der Oder. Die Region kennt er wie seine Westentasche. Und trotz allem begnügt sich Hans-Joachim damit, sich um ein paar Hühner, Kaninchen und etwas um den Garten zu kümmern, um den Alltag zu verbessern und gemeinsam mit den Nachbarn möglichst angenehm zu gestalten. Jetzt verstehe ich auch die Abneigung gegenüber dem Alkohol, der mir bei den Leuten weiter südlich begegnet war. Es scheint, als würde er den schwierigen Alltag mildern, aber in Wirklichkeit schläfert er den Geist ein und verschlingt den einen oder andern ganz, und läßt einen jeden den Menschen vergessen, der dahinter steckt. |